In der vertrauten Fremde

Ein Erfahrungsbericht über meine Zeit als Freiwillige in Nepal, Mai bis Juli 2019.

Als ich an jenem Tag gedankenverloren durch Facebook scrollte, wusste ich noch nicht, dass einer dieser Posts mein Leben verändern sollte. Zufällig stieß ich auf eine Nachricht, die Freiwillige für zwei Schulen in den ärmeren Gebieten Nepals suchte. Nicht nur war es ein österreichisches Projekt, das Kinder in Südasien eine Zukunftsperspektive ermöglichte, sondern es fokussierte auch noch auf Mädchen- und Frauenrechte, genau das, was ich als Kind schon immer machen wollte! Einen besseren Grund konnte ich nicht finden, meine neue Heimat, die Paradiesinsel La Réunion, auf der ich seit einem akademischen Jahr Erasmusstudentin war, zu verlassen.

Jedes Ende ist zugleich ein neuer Beginn.
– Von La Réunion über Bangkok nach Birganj, Nepal

Ohne weiteres bewarb ich mich und erhielt nach wenigen Tagen auch die Zusage. Flüge wurden gebucht und nach wehmütigen Abschieden ging es nach Nepal, doch natürlich verlief nicht alles ohne Komplikationen. So musste ich aufgrund von Passproblemen meinen Transitaufenthalt in Bangkok von drei Stunden auf zehn Tage verlängern. Dies erschien mir jedoch wie ein Wink des Schicksals, denn während meines Aufenthaltes durfte ich die dreitägige Krönungszermonie – die erste seit beinahe 70 Jahren – des neuen thailändischen Königs, Rama X, erleben. Nachdem die Bürokratie besiegt wurde und ich der nepalesischen Hauptstadt gelandet war, war das Abenteuer noch nicht zu Ende, ganz im Gegenteil, hier begann es erst. Am Flughafen wurde ich von meinen Gasteltern Baua Dai und Anamika empfangen. Nach einem Halbtag in Kathmandu, der hauptsächlich genutzt wurde, um Energie zu tanken, ging es mit dem Nachtbus in mein Zuhause für die kommenden drei Monate. Angekommen, wurde mir erzählt, dass die Fahrt für die ca. 140 km statt den vorgesehenen acht Stunden wegen Motorschäden des Busses zehn Stunden gedauert hatte. Mir war es nur recht, denn dadurch gewann ich zwei Stunden mehr Schlaf im Bus.

Du wirst weder die Welt noch Nepal verändern, aber du wirst das Leben einiger Mädchen verändern und das ist alles, was zählt.
– Kulturschock trotz Vorbereitung  

In Birganj angekommen, ging es dann auch endlich los: ich durfte unterrichten, wobei ich gleichzeitig auch Vieles lernte. Anfänglich hielt ich mich eher im Hintergrund, ließ die Eindrücke auf mich wirken und tauchte ins nepalesische Leben ein. Durch meinen bengalischen Migratrionshintergrund bereitete es mir keine allzu großen Schwierigkeiten, die Kultur und ihre Leute zu verstehen, wobei ich dennoch manchmal an meine Grenzen stieß, wenn ich beispielsweise die gewohnte Privatsphäre und für mich selbstverständliche Freiheiten misste. Ab und an beschäftigte mich der Gedanke, weshalb ich doch meine Paradiesinsel La Réunion verlassen hatte, um meine Zeit hier in der Misere und Elend Nepals zu verbringen. Doch schnell wurden jene Gedanken aus dem Kopf verbannt. Denn nicht nur hatte meine Gastfamilie immer ein offenes Ohr für meine Anliegen – Anamika wurde bald wie eine ältere Schwester, die ich nie hatte. Auch halfen mir die Telefonate mit FreundInnen, die mich darauf aufmerksam machten, dass solch ein Projekt doch immer mein Kindheitstraum gewesen sei, oder die Gespräche mit Brigitte, die mehrmals betonte, dass ich mit meinen Taten zwar weder die Welt, noch Nepal oder Birganj verändern werde, aber das Leben des einen oder anderen Mädchens.

Die Prisonschool Kids und ihre neue Lehrerin 🙂

Manche sind im Feuer verloren, andere daraus gebaut.
– Die SchülerInnen, ihre Schulen und Umgebungen

Und tatsächlich sind die Kinder voller Leben, voller Energie und wissbegierig. Ich wage zu behaupten, dass sie die motiviertesten SchülerInnen sind, die ich bisher unterrichtete und freuten sich über noch so kleine Projekte, die ich mit ihnen durchführte. Natürlich sind sie laut und frech, wie alle Kinder, aber auch stets neugierig und offen für neue Methoden und Inhalte. Auch Dankbarkeit war eine Tugend, die ich dort sehr oft wahrnahm, egal ob für die Hygieneartikel, die in den Schulen zur Verfügung standen, oder neue Schulbücher und -uniformen. Die strahlenden Kinderaugen, als ich ihnen zum ersten Mal beibrachte, sich die neuen Schuhe zu binden, werde ich niemals vergessen. Diese Momente waren jeden Mückenstich, jeden Stromausfall bei bis zu 46 °C und jedes kulturelle Missverständnis wert. Davon gab es anfänglich zwar einige, doch bald hatten die NachbarInnen und Gefängniswerter und -bediensteten eingesehen, dass ich trotz meines südasiatischen Migrationshintergrundes doch in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen war. Spätestens als ich began Hindi zu lernen – nicht nur um die Verständigung zu erleichtern, sondern auch, weil ich mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollte, eine neue Sprache mit Muttersprachlern zu erlernen – hatte ich das Gefühl, dass mich auch alle GefängnismitarbeiterInnen und FamilienfreundInnen ins Herz geschlossen hatten. So bereitet das Unterrichten gleich doppelte Freude.

Nicht was man denkt, sondern wie man denkt, muss Kindern beigebracht werden.
– Die Lehrerinnenkonferenz

Doch nur das Unterrichten der Kinder befriedigte mein Bedürfnis nach Veränderung nicht. Ich wandte andere Lehrmethoden als das für Nepal übliche strikte Nachreden und Auswendiglernen an, sodass die SchülerInnen nicht nur den Lernstoff schneller erarbeiteten, sondern auch wirklich verstanden. Die Kinder waren zwar begeistert, jedoch schienen die Lehrerinnen nicht davon angesteckt zu werden. Dies war der Grund, weshalb ich bald eine Lehrerinnenkonferenz für das Lehrpersonal beider Schulen organisierte. Auch wenn ich keine ordentliche Ausbildung zum Lehren habe, konnte ich meine langjährigen Erfahrungen vom Nachhilfegeben, dem Unterrichten bei anderen Projekten, wie Plan Anglais kurz davor auf La Réunion, und natürlich meine Erfahrung als Schülerin in einem der besten Schulen im Bundesland Salzburg, einbringen. In den Tagen davor setzte ich mich nach der Reihe in den Unterricht der Lehrinnen, um zu analysieren, was noch ausbaufähig ist. So opferte jede Konferenzteilnehmerin einen ganzen Samstag, den einzigen schulfreien Tag der Woche, um „neue“ Methoden, Lernspiele und -lieder gemeinsam zu erarbeiten, um den Frontalunterricht zu lockern. Außerdem wurde der Schultag strukturiert, und Regeln aufgestellt und wiederholt, an denen sich sowohl die Schüler- als auch Lehrerschaft zu halten haben.

Die Lehrerinnen der beiden Schulen bei der Lehrerinnenkonferenz

In der Regel tabu
– Der Menstruationsworkshop

Nach dieser erfolgreichen Konferenz war die Motivation, eine andere Veranstaltung zu organisieren, noch größer. So fanden durch Brigittes Anregung “Menstrual Awareness workshops” in beiden Schulen statt. An diesen Workshops nahmen nicht nur die älteren Schülerinnen teil, sondern auch ihre Schwestern, Mütter, Tanten und Nachbarinnen. Nach gründlichen Recherchen fand ich im Internet viel Material zur Thematik, sowohl auf Nepalesisch als auch Englisch. So hielt ich den Workshop auf Grund meiner mangelnden Nepalischkenntnissen auf Englisch, wobei Anamika zum Verständnis aller übersetzte. Ich muss zugeben, dass ich sehr erstaunt war, wie offen die Frauen waren, wobei das eine peinlich berührte Lachen trotz auflockernder Aktivitäten nicht vermeidbar war.  

Slum Mädchen und ihre Mütter beim Menstruationsworkshop

Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen. 
– Was noch getan werden kann

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich während meines Aufenthaltes Erfahrungen machte und Momente erlebte, die ich mir nie erträumt hätte. Allerdings gibt es auch noch Einiges zu verbessern. Meines Erachtens nach müssen die „neuen“ Lernmethoden noch vertieft und erweitert werden. Zwar bauten die Leherinnen nach der Konferenz Spiele, Lieder und Gruppenarbeiten in ihrem Unterricht ein, jedoch hatte ich das Gefühl, dass ihnen die Wichtigkeit der Erziehung zur Selbstständigkeit nicht klar ist, weshalb sie noch auf ihre „altbewährte“ Auswendiglernmethode pochen.

Auch die Überwindung weiterer Stigmata in Bezug auf Frauenkörper und deren Sexualität sollte fokusiert werden. Diesbezüglich versuchte ich nach Inspiration des Bollywoodfilmes Pad Man, der auf wahren Begebenheiten basiert, Kontakt mit der Agentur für Bindemaschinen herzustellen. Jedoch erhielt ich trotzt mehrmaligem Versuch zur Kontaktaufnahme keine Antwort von ihnen.

Ein weiteres Projekt, das abgebrochen wurde, war der Versuch, den ärmsten Müttern der SlumschülerInnen Ziegen und Unterstützung zur Verfügung zu stellen, damit sie sich dadurch selbst eine Verdienstmöglichkeit schaffen können. Doch nach den Besuchen bei den Familien der SchülerInnen stellte sich heraus, dass alle bereits eine wenn auch noch so kleine Viehwirtschaft Viehwirtschaft betrieben.

Dieses Projekt gewährte mir jedoch nicht nur einen Einblick in das Privatleben der Familien der SchülerInnen, sondern auch wie die Lehrpersonen an Projekte außerhalb des Unterrichts rangehen. Hier bestätigte sich mein Gefühl, dass sie durchaus Hilfe im logischen und selbstständigen Strukturieren und Organisieren gebrauchen können.

Sughandi, Anamika und ich- alle in traditionell nepalesischen Sari!
Zia, ich und Sapana

Eine Investition in Bildung zahlt die besten Zinsen.
– Was ich von meinem Aufenthalt mitnehme

Dennoch haben mir die Mitarbeiterinnen und alle anderen Beteiligten des gesamten Aufenthaltes viel beigebracht. In erster Linie lernte ich, die Welt wieder mit den Augen eines Kindes zu sehen, was das Leben viel einfacher und entspannter macht. Auch dadurch, dass ich erleben durfte, wie dankbar jedeR für die kleinsten Dinge ist, schätze ich das, was ich habe, auch viel mehr. Natürlich war mein ganzer Aufenthalt nicht nur mit Arbeit gefüllt. Nach dem Schulunterricht und der Vorbereitung auf die nächsten Tage oder Workshops konnte ich meine Freizeit damit verbringen, die Gegend und die südnepalesische Kultur zu erkunden, was mich wieder näher an meine bengalischen Wurzeln brachte. Auch musste ich feststellen, dass das Sprichwort „Einmal Lehrer, immer Lehrer“ stimmt. Denn nicht selten kam es vor, dass meine Gastschwester Zia, ein paar Nachbarsmädchen und ich die „Mädchenzeit[1]“ des dortigen Schwimmbades nutzten. Ebenso oft kam es vor, dass mich wildfremde Mädchen baten, ihnen Schwimmen beizubringen, in Anbetracht dessen, dass ich meist die Einzige im Becken war, die dazu in der Lage war. Neben dem Schwimmunterricht wurde meine Freizeitbeschäftigung mit Fahrradfahrunterricht für die Nachbarsmädchen ergänzt.  Es bereitet mir nicht nur Freude, weitere Möglichkeiten gefunden zu haben, Mädchen zu stärken, sondern der Umstand, dass diese Mädchen kaum Englisch sprachen, bot mir die Möglichkeit mein Hindilernvorgang zu beschleunigen. So gewann ich also durch diesen dreimonatigen Aufenthalt nicht nur Lebensfreude, Erfahrung, Kontakt zu meinen Wurzeln, FreundInnen und eine neue Familie auf der anderen Seite der Welt sammeln, sondern auch eine weitere Sprache in meinem Repertoire, womit ich niemals gerechnet hatte. Deshalb freue ich mich, den weitern Weg von Child Vision Nepal und der SchülerInnen, die ich alle ins Herz geschlossen habe, mitzuerleben.

[1] zwei Stunden, in der nur Mädchen und Frauen das Schwimmbad betreten dürfen

Mehanaz Kabir